Ein Film in 4 Teilen von Andreas Christoph Schmidt, produziert von Schmidt & Paetzel Fernsehfilme im Auftrag von SWR und SFB.

Folge 1 - Protest und Theorie

Wissen Sie, wer tot ist? Aber so was von tot? Der Sozialismus. Links ist echt vorbei.
Wie konnte sich nur eine ganze Generation so verrennen? Wissenschaftlicher Sozialismus! Wieso eine Generation? Viele Generationen, von Marx bis - was sag ich, von Spartakus bis, tja, bis Joschka Fischer?

Was bleibt? Daß wir jung waren? Als wir Linke waren?



Dies vorne rechts mit Gitarre, ist Michael Chapman. Anfang der Siebziger, in einem Studio in ..., tja unbekannt. Er spielt sein Stück "Among the Trees", Unter den Bäumen.
Ich habe nie recht verstanden, worum es dabei geht, sicher nicht um Klassenkampf oder soziale Gerechtigkeit, aber dennoch: auf die Frage, ob dieses Lied links oder rechts sei, hätte ich ohne Zögern geantwortet: "Links!"
Warum eigentlich?
Warum tragen Sie lange Haare?
Ja, ich find, daß das gut aussieht im Grunde, weil ich auf englische Musik stehe, verstehn Sie? Ich finde englische Musik so gut und ich finde auch gut wie ich so sehe, wie man in England so rumgammelt, ohne Strümpfe und so kaputte Schuhe und so. Ich finde überhaupt diese ganze Tour so gut, und darum trag ich sie so.
Ist das vielleicht aus Protest gegen die Erwachsenen, oder gegen irgendetwas in der Gesellschaft, das ihnen nicht gefällt?
Ja, ick bin gegen Spießbürgertum, dat is allet und ick finde dit uff eene Art so doll und duffte und so.
Was sagt der Lehrherr zu ihren langen Haaren?
Ja, der spitzt mir immer an, zum Frisör und so, aber feif ick druff.

"Der spitzt mir immer an, zum Frisör und so, aber feif ick druff." Berlin 1965.

Waren lange Haare links? Das war schließlich keine Frage der Mode, sondern der Weltanschauung.

Waren die Beatles links? Waren die Stones linker als die Beatles?

Waren Pop, Rock, Minirock links?

Waren Mao, Che, Breschnjew, Stalin, Lenin, Marx und Engels links?

Willy Brandt?

Die Baader-Meinhof-Bande?


Klaus Theweleit
Klaus Theweleit
"Frechheit, das war das Erste. Man hatte frech zu sein, gegenüber diesen merkwürdigen Autoritäten, rotzfrech, und sich den Ansprüchen zu entziehen, auf allen möglichen Ebenen, und ne andere Sorte Leben anzufangen.
Wenn man den Begriff links, der sich als politisch versteht, vernünftig beschreiben wollte, würde ich ihn da ansetzen. Das war ein Lebensgefühl, ein generationelles Lebensgefühl, das gegenüber dieser älteren Generation entstand, von der man sich nicht abspeisen lassen wollte in der Art und Weise, wie sie es taten, die aber gleichzeitig von einem, was sie anständiges Leben nannten, Ehrlichkeit, aufrechte Haltung, Fleiß, Gehorsam verlangten, und man wußte, die haben allen möglichen Dreck an der Hacke und spielen hier die absoluten Saubermänner und Frauen, und dagegen wurde rebelliert."

Karierte Hose, twist'n shout, Rebellion gegen die alten Nazis, klar.

"Deutschland ist bekanntermaßen ein Land mit einer starken autoritären Tradition, und die blätterte damals ab. Nicht nur durch die aufmüpfigen Studenten, sondern vor allem dadurch, daß man den Krieg verloren hatte. Und die großen Autoritäten, die in Militär und Schulen und Wissenschaft und Verwaltung, die waren alle irgendwie blamiert, die hatten es einfach nicht geschafft.
Also, dieses ganze Strammstehen und Gehorchen und so, hatte ja unter Hitler in die Katastrophe geführt und das war natürlich der Hauptgrund dafür, daß das alles nicht mehr, keiner wollte das mehr. Die Älteren konnten aber nicht anders. Die Jungen aber dachten, das muß anders gehen, und haben sich dann gegen Disziplin und Ordnung und so was richtig so ein bißchen verschworen."
Barbara Sichtermann
Barbara Sichtermann

Da gibt es einen, der sagt, die Linke ist viel älter, so alt wie die Zivilisation. Sie ist geradezu eines der Merkmale der Geschichte. Man sollte meinen, das sei ein linker Denkansatz: keine Geschichte ohne die Linke. Aber der so denkt, ist gar kein Linker, sondern gilt als Rechter.

Ernst Nolte
Ernst Nolte
"Das einfachste ist vielleicht, auszugehen von einem Marxschen Begriff, nämlich Urkommunismus. Und ich würde sagen: Alles, was diesem Urkommunismus nachtrauert, ist links. Was ihn, sei es auch auf höherer Stufe, wiederhergestellt sehen möchte, ist links. Wenn Sie, zum Beispiel etwa, sich das berühmte Buch von Thomas Paine ansehen, mit dem Amerika sozusagen ins Leben getreten ist, der erste Staat der Linken, wie ich ihn genannt habe."

Wie bitte? Amerika links?

"Dann spricht er von den schönen, patriarchalischen Zeiten, als die Menschheit so naturgemäß lebte, wie sie eigentlich leben sollte, und seitdem ist sie in die Zivilisation herabgestürzt."

Absturz in die Zivilisation. Thomas Paine. Sein Buch "Die Rechte des Menschen", geschrieben zur Verteidigung der Französischen Revolution gegen ihre Kritiker, erschienen 1791, 1793 bereits die zweite Auflage in deutscher Sprache. In Deutsch, nicht in Deutschland.

"Gehen wir aber immer weiter, so kommen wir endlich auf den rechten Punkt. Wir kommen zu der Zeit, da der Mensch aus den Händen des Schöpfers kam. Was war er damals? Mensch. Mensch war sein hoher und einziger Titel, und ein höherer kann ihm nicht gegeben werden.
Zwar will ich keine Religionssätze irgendeiner Sekte berühren, doch halte ich es der Bemerkung wert, daß die Genealogie unseres Christus bis zu Adam hinaufgeht. Warum führen wir denn nicht die Rechte des Menschen bis zu Schöpfung hinauf? Ich will die Frage beantworten. Weil Regierungen aus Nichts sich aufwarfen, sich zwischen diese Rechte stellten und sich anmaßten, den Menschen zunichte zu machen."

Nolte: "Also was wir heute doch überwiegend als positiv empfinden, die Zivilisation, wird hier sehr negativ gefaßt und zwar deshalb, weil sie zum Beispiel dem einzelnen Menschen andere Menschen überordnet, weil sie ihn Apparaten unterwirft, weil sie nicht diejenige Freiheit dem einzelnen Menschen gibt, die er haben sollte und weil sie vor allen Dingen Ungleichheit zwischen den Menschen schafft, die es angeblich, nach Paine, in diesen frühen, pariarchalischen Zeiten nicht gegeben hat."
"Heißt das etwa, daß die frühe Linke antizivilisatorisch gewesen sei?"
"Ich würde sagen, in jeder Linken steckt ein Element des Archaischen."
Theweleit: "Die meisten jetzt Sechzigjährigen, die ich kenn, verlassen fluchtartig den Raum, wenn von Techno bis HipHop was ertönt, dabei wohl wissend, daß einer ihrer Hauptauseinandersetzungspunkte mit ihren Eltern, mit unseren Eltern, Musik war. Die das, was wir hörten, für Negermusik erklärten, und für uns waren das die klarsten Klänge aus Mingus bis Gillespie, in denen Faschismus zum Beispiel ausgelöscht war, nicht vorkam. Das konnten die nicht hören."
"Was war eigentlich wichtiger, der Marxismus oder die Musik und was war zuerst da, Popmusik oder die blauen Bände?"
"Na Popmusik war natürlich zuerst da. Das Kino war auch zuerst da. Die blauen Bände sind überhaupt nicht das Zentrum dessen, was Ende der sechziger Jahre sich links nennt oder links wird. Das ist die Zutat.

Marxismus eine Zutat zum Rock`n Roll.
Die blauen Bände - auch MEW, Marx Engels Werke. Konnte man früher in der DDR billig kaufen. Nach dem Ende der DDR für umsonst auf der Straße einsammeln. Aber heute muß man schon wieder 300 Euro zahlen für die 44 Ziegel.

Eins steht fest: Man muß Marx gelesen haben, wenn man ein richtiger Linker sein will. Stimmt's, Professor Haug?

Wolfgang Fritz Haug
Wolfgang Fritz Haug
"Auf gar keinen Fall, nein. Es gibt viele Formen links zu sein. Es gibt viele, die von Marx nichts wissen, oder nichts wissen wollen. Es gibt eben viele Formen links zu sein, das ist eben die Antwort."

Gut. Man kann links sein, ohne Marxist zu sein. Aber:

"Wer sich nicht mit Marx beschäftigt, der vergibt die größte Chance, sein Denken zu schulen. Das ist mal der erste Punkt. Es gibt keine zweite Analyse dessen, was auf diesem Globus jetzt existiert und herrscht, des Kapitalismus, die mit der Marxschen konkurrieren könnte. Das ist meine tiefe Überzeugung. Deswegen versteht niemand etwas von diesen Prozessen, der einfach an diesen Erkenntnissen vorbeigeht."
Bill-Haley-Konzert
Bill-Haley-Konzert
im Sportpalast, 1959

Bill Haley aus dem 1. Staat der Linken. Die Halbstarken hatten keinen Marx gelesen und kannten keinen Freud und verstanden darum nicht, warum sie das Mobiliar zertrümmerten. Der Aufstand war da, ohne warum, wieso, wohin. Da war einer dabei aus Rathenow im Havelland, DDR, der fand's klasse, Jazz und Keilerei.

"Also das hatte mir alles sehr gefallen und hat mich also nähergebracht an dieses westliche Leben. Da waren einerseits die politischen Erfahrungen, aber auch die ganzen privaten Erfahrungen. Und deshalb war Berlin für mich eine Großstadt.
Ein anderes Leben, nicht die Provinz woher ich kam, nicht die Enge einer Kleinstadt, wo jeder hinter dem andern hinterherstarrte, sondern eine Stadt, die das freie Leben zu verkörpern schien."
Bernd Rabehl
Bernd Rabehl
Die Stadt
"Die Stadt"
Ein Film von Herbert Veseley, 1960
"Weil ihr schwach seid, habt Ihr uns Halbstarke genannt.
Weil ihr schwach seid, habt Ihr Euch Ruhe von uns erkauft,
solange wir klein waren, mit Kinogeld und Eis.
Nicht uns habt Ihr damit gedient, sondern Euch und Eurer Bequemlichkeit."

In Herbert Veselys Film "Die Stadt" formuliert sich zaghaft Politisches. Auf der Suche nach dem Grund der Revolte.

"Zeig, ob Du stark bist im Menschsein, Herr Minister!
Wieviele gute Taten begehst Du im Verborgenen als Christ?
Wir machen offen Lärm und randalieren.
Ihr aber kämpft gnadenlos im Verborgenen, einer gegen den anderen.
Ihr dreht Euch geschäftig den Hals um, intrigiert um besser bezahlte Posten.
Zeigt uns für jeden von uns, der Lärm macht, einen von Euch, der im Stillen gut ist.
Laßt, anstatt mit Gummiknüppeln zu drohen, Männer auf uns los, die zeigen, wo der Weg ist. Nicht mit Worten, sondern mit ihrem Leben.
Aber Ihr seid schwach, und wir sind halbstark."

"Wie ist denn das heute eigentlich. Könnte man sich sowas wie eine Jugendrevolte vorstellen?"
Rabehl: "Nein, diese Jugendkonstellation in den sechziger Jahren ist wahrscheinlich einmalig gewesen. Weil die Elterngeneration Krieg und Nachkriegszeit verdrängt hat, und vor allen Dingen die Verbrechen der Nazis und so getan hat, als seien sie normal. Aber die Söhne und Töchter hatten sie durchschaut, sie waren nicht normal. Die Protestierenden, die Skeptiker waren nur unzufrieden mit dieser Heuchelei. Und gleichzeitig spürten sie, die alte Gesellschaft, die Tradition geht vorbei, es entsteht eine neue Gesellschaft und es kam dort eine Generationslagerung zusammen von zwanzig Jahrgängen. Wir waren dreißig, die Schülerbewegung war zwölf. Das heißt also, hier kamen von den Zwölfjährigen bis zu den Dreißigjährigen alle Jahrgänge zusammen und bildeten kurzfristig eine Einheit und wurden über Musik und Rock'n Roll und Tanz und Mode und Bewegung, Jugendkult zusammengehalten. Das gibts heute nicht."


"Wie ist das eigentlich mit der Linken und der Revolte? Ist Revolte nicht Bedingung für Linkssein?"
Nolte: "Ja, natürlich. Sie leben ja, wir alle leben in der Zivilisation. Alle Linken haben in der Zivilisation gelebt. Ich würde die These wagen, daß mit der Hochkultur, also der antiken, der klassischen Hochkultur, schon Sumer und Akkad, da entsteht die Linke, und überall läßt sich Linke nachweisen. Ich würde also sagen, ein Linker war zum Beispiel der Zimmermann, von dem wir aus einem ägyptischen Papyrus wissen, und der sagte: 'Ich bin es leid den ganzen Tag hier die Bretter umherzuschleppen, der Wesir soll seine Bretter selber tragen.' Das ist ein echt linker Affekt, würde ich sagen, auch ein berechtigter Affekt und ein potentiell sehr positiver Affekt. Da ist gar kein Zweifel.
Deshalb ist die Linke, da sie sich notwendigerweise in der Zivilisation bewegt, immer auf Änderung aus und wenn es sein muß auf gewalttätige Änderung. Das heißt auf Rebellion."

Rebellion, Umsturz, Guillotine!

Die hier waren eigentlich gar nicht auf Gewalt und Veränderung aus, jedenfalls gaben sie an, sie hätten nichts weiter gewollt, als russische Volkslieder singen.
Russische!
Volks!
Und das abends um halb zehn. Wo mer a Ruh hoam will. München 1962.

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier: Schon steh'n die Bullen vor der Tür.
Dann gab's ´ne fröhliche Keilerei
Die dauerte 5 Tage oder 3.
Und wer auf sich hielt, war dabei
Sieg durch k.o. - die Polizei.

Andreas Baader kehrte heim und sagte: "Mutti, in einem Staat, wo man so verdroschen wird, da ist was faul!" Andreas Baader, später Baader-Meinhof-Bande.

Auch Christian Semler erlebte die "Mutter aller Demos".

Christian Semler
Christian Semler
"Also, das war nun nicht gerade eine politische Angelegenheit, aber hatte so einen Vorläufercharakter."
"Die Rebellion ist schon da, die politische Unterfütterung der Rebellion fehlt..."
"Das war genau der Fall bei den Schwabinger Krawallen, das war eine Subkultur, die selbst noch nicht zu sich gefunden hatte. Das hat es in München auch nie gegeben - später. Sondern diese Fusion zu einer radikalen Version des Sozialismus und Antiimperialismus, die hat um die Stadt München immer einen großen Bogen gemacht, was natürlich damit zusammenhing, daß es ein absolutes Zentrum der Subkultur und des Hedonismus war. Es klappte dort eben nicht."
"Es klappte in München nicht, weil es ein Zentrum des Hedonismus war?"
"So isses, ja."
"Darum konnte sich München nie so recht politisieren in dieser Zeit?"
"Ja."
"Warum?"
"Weil die Möglichkeiten der Studenten, gewissermaßen zu einem 'gepflegten' Protest, zu allen möglichen anderen Formen sich auszudrücken, bis hin zu dem nahen Gebirge, Skifahren, Schwimmen und so weiter im Starnberger See oder im Ammersee, Segeln, die Musik ... das bildete eben einen sehr schwer erschütterbaren Kosmos des Vergnügens. Und davon konnte in dieser Weise in Berlin natürlich nicht die Rede sein, da war alles viel karger."
"Aha, in Berlin war also die Mauer drum rum, man kam nicht raus, Skifahren konnte man nicht, auch das Wetter war nicht so gut, und wenn man dann ein bißchen Spaß haben wollte, dann mußte man den Kudamm heruntertoben?"
"Da ist was dran, aber das war natürlich nicht das einzige Motiv."
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© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme 2003